Nadia Singer

Sie ist Lutz Görners Entdeckung des Sommers 2014!

Hallo!

Mein Name ist Nadia Singer und im August bin ich 30 Jahre alt geworden. Sie kennen mich als musikalische Partnerin von Lutz Görner, den ich schon seit sieben Jahren auf der Bühne begleite. Im Herbst 2021 gehe ich zum ersten Mal allein auf Tournee. Bevor das geschieht, möchte ich Ihnen erzählen, wie mein Leben bisher verlaufen ist. ‍ Meinen deutschen Nachnamen habe ich von meiner Mutter Ella Singer, einer Pianistin, deren Großeltern (Gottlieb Singer und Karoline Wilhelmine Schlein) vor über 100 Jahren aus Süddeutschland in den Kaukasus übergesiedelt sind. Sie lebten mit ihren sieben Kindern und anderen Verwandten in der kleinen deutschen Siedlung Gnadenburg. Sie waren wohlhabend, arbeiteten viel und in ihrer Freizeit beschäftigten sie sich mit Musik, sodass sich ein kleines Familienorchester gebildet hat.

Mein Großvater Friedrich spielte Akkordeon, Klavier, Geige und Kontrabass. Außerdem war er bekannt als guter Schreiner und Klavierstimmer. Das Leben der Familie Singer war schön bis zu jener schrecklichen Nacht im Jahr 1937. Ohne Ankündigung kam die sowjetische Geheimpolizei NKWD ins Haus und brachte alle Männer meiner Familie ins Gefängnis. Sie waren jetzt auf Grund der Ereignisse in Deutschland „Feinde des Volkes“. Mein Urgroßvater Gottlieb wurde dort nach drei Tagen erschossen.
Die vier Jungen – Paul, Willy, Richard und Friedrich – wurden nach Sibirien gebracht und alle Frauen – meine Urgroßmutter Karoline und drei Töchter – Ella, Klara und Anna, wurden nach Kasachstan verbannt. Mein Großvater Friedrich hat insgesamt 16 Jahre im Arbeitslager in Sibirien verbracht. Er musste eine bestimmte Anzahl von Bäumen abholzen, um Essen zu bekommen. Dennoch hatte er gelegentliche Freigänge.

Dort hat er meine Großmutter Nadia kennengelernt. Sie war 18, er 34. Es war eine große Liebe. Meine Oma hat immer auf seine Befreiung gewartet, ohne zu wissen, ob er überhaupt noch lebt! Durch Stalins Tod im Jahr 1953 wurde mein Opa befreit. In seiner Befreiungsurkunde stand - „kein Schuldbeweis“. Meine Oma erhielt nur ein Fernschreiben, in dem sie las, dass Friedrich lebe und frei sei. Sie ging zu Fuß in die Ortschaft, wo Friedrich sich aufhielt. Sibirien, Winter, Hunger, minus 40 Grad. Durch Zufall hat sie ihn nach Tagen getroffen. Sie lebten einige Zeit in Kasachstan bei Friedrichs Mutter Karoline und seinen Schwestern. Nach Karolines Tod siedelte die Familie zurück in den Kaukasus, nach Pjatigorsk, wo meine Mutter geboren wurde. Als sie 21 Jahre alt war, starb mein Großvater an Nierenschwäche. Er wurde 72 Jahre alt. Vor ein paar Monaten habe ich als erste in meiner Familie als Spätaussiedler die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Ich muss sagen, das ist ein unbeschreibliches Gefühl.

Denn jetzt, nach so vielen Jahren, ist ein Teil der Familie Singer wieder zu Hause. Aber jetzt der Reihe nach! Ich bin in einer sehr musikalischen Familie geboren. Meine Eltern haben sich beim Studium am Staatlichen Rachmaninow Konservatorium in Rostow-am-Don kennengelernt. Mein Vater, ein Don-Kosake, hat dort Volksmusik studiert, meine Mutter Klavier. Nach dem Studium heirateten sie und zogen nach Nowotscherkassk. Eine kleine, graue Industriestadt, aber immerhin mit ein bisschen Kultur. Dort im Kulturhaus gab meine Mutter Konzerte und unterrichtete Klavier und Gesang. Mein Vater hat eine Volksband gegründet, die heute immer noch existiert. Außerdem war er Kultur- und Projektleiter des Kulturhauses. In dieser grauen Stadt, aber immerhin hatte sie ein bisschen Kultur, wurde meine Schwester Maria geboren. Drei Jahre später kam ich zur Welt. Die neunziger Jahre in Russland kann ich nicht als die beste Zeit bezeichnen: Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität... Meine Eltern hatten monatelang kein Gehalt bekommen.

Mein Vater musste Klaviere stimmen, damit wir überhaupt was zu essen hatten und meine Mutter hat mit ihren zwei kleinen Kindern durchgehend gearbeitet. Also, ich kann behaupten, meine Kindheit habe ich unter dem Flügel verbracht. Mit drei Jahren bekam ich an diesem Kulturhaus Gesangsunterricht. Meine Mutter unterrichtete mich und meine Schwester am Klavier. Das war eine besondere, aber gleichzeitig eine wunderschöne Kindheit mit viel Liebe, Musik und mit viel Liebe zur Musik. Fünf Jahre später haben meine Eltern für meine Schwester und mich die bestmögliche Musikschule Südrusslands ausgesucht. Nämlich, eine spezielle Musikschule für begabte Kinder. Sie gehört zum Rostower Rachmaninow Konservatorium.

Da meine Eltern ihre Jobs in Nowotscherkassk nicht verlieren durften, haben sie eine für uns alle schwierige Entscheidung treffen müssen: sie schickten meine Schwester und mich nach Rostow, um zu studieren. Das Geld für eine eigene Wohnung in Rostow hatten wir nicht, deswegen bekamen wir zwei Betten in einem 20 qm Zimmer in einem Studentenwohnheim, allerdings zusammen mit zwei älteren Studentinnen. Meine Schwester war elf, ich acht Jahre alt. Meine Eltern konnten uns nur am Wochenende besuchen, brachten Essen für die kommende Woche mit und halfen uns mit den Hausaufgaben usw. Diese Trennung fiel uns allen sehr schwer, hatte aber auch Vorteile, denn so sind wir früh selbständig geworden und haben eine ausgezeichnete Ausbildung von den Professoren des Konservatoriums bekommen. Außerdem habe ich 6 Jahre lang Jazzgesang studiert, mit einem kleinen Orchester gearbeitet und ab und zu in den Clubs und Bars der Millionenstadt Rostow gesungen.

Mit 17 Jahren bekam ich mit Auszeichnung mein Abitur und zwei Monate später habe ich mein Studium am Konservatorium angefangen. Als ich 19 war, bot mir meine Professorin an, die übrigens meine Schwester und auch meine Mutter unterrichtete, zu einem Wettbewerb nach Tscheljabinsk im Südural zu fahren. Man könne da was verdienen und in der Jury sollen richtig bekannte Musiker sein. Allerdings hatte ich nur zwei Monate für die Vorbereitung, habe aber trotzdem zugesagt. Und nun, mit einem 2,5 stündigen gut vorbereiteten Programm, stieg ich im November 2010 in Rostow bei plus18 Grad in den Flieger. Nach 4 Stunden stieg ich am Südural bei minus18 Grad aus. Aber es hat sich gelohnt. Ich war die Jüngste und habe den vierten Preis gewonnen und etwas Geld verdient. Aber das ist alles unwichtig, denn nach dem Abschlusskonzert habe ich das wichtigste Gespräch meines Lebens gehabt. Nämlich mit dem Weimarer Professor Grigory Gruzman, einem hervorragenden St. Petersburger Pianisten.

Er fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, bei ihm in Weimar seine Studentin zu werden. Am selben Abend nach dem Telefonat mit meinen Eltern, habe ich mich entschieden diesen wichtigen Schritt zu machen. Mit dem Geld vom Wettbewerb habe ich die Flugtickets nach Deutschland und zwei Nächte im Hotel in Weimar bezahlt und am 15. April 2012 stand ich mit einem Koffer und einem Rucksack vor dem Bahnhof in Weimar. Meine Deutschkenntnisse bestanden nur aus ‘Hallo‘ – ‘Tschüs‘ und ‘ich habe Hunger‘. Aber mein Studium in Russland habe ich nicht aufgegeben. Zwei Jahre lang pendelte ich zwischen Rostow und Weimar hin und her. Im Jahr 2014 bekam ich das Diplom des Rostower Konservatoriums mit der Abschlussnote Eins Komma Null. In Weimar habe ich ein kleines Zimmer am Rand der Stadt in einem Studentenwohnheim bekommen. Ich wurde sehr bedauert, denn das Wohnheim war nicht das Beste und lag zu weit von der Hochschule entfernt. Aber das war mir zunächst egal, denn ich lebte zum ersten Mal in meinem Leben allein.
Allein in einem Zimmer! Nur für mich! Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie glücklich ich war. Ich habe bei einem Sprachkurs teilgenommen, habe viel geübt und viele Leute kennengelernt.

Aber eine meiner Begegnungen mit anderen war gar nicht schön. Ich wurde nämlich von einem Vergewaltiger überfallen. Aber nicht nachts in einem Park, sondern tagsüber im Korridor meines Wohnheimes. Er ist einfach mit ins Gebäude reingeschlichen. Er war sehr stark, hat mich geschlagen und versuchte mich auszuziehen. Zum Glück hatte er kein Messer dabei und ich konnte mich wehren. Nach einem langen Kampf floh er mit meinem Handy. Ich fuhr mit mehreren Verletzungen in die Polizeistelle und teilte mit, was mir grade passierte. Da habe ich erfahren, dass bereits fünf Frauen im näheren Umfeld des Studentenwohnheims vergewaltigt wurden. Um eine Panik zu vermeiden, war erwünscht, dass ich die Geschichte nicht weitererzähle. Aber ich habe den Vorfall natürlich allen erzählt. Ich erstellte eine Anzeige und bekam sofort ein Zimmer in einem anderen Wohnheim. Nach zwei Tagen habe ich den jungen Mann wiedergesehen. Er hat mich mit einem alten roten Volkswagen verfolgt. Ich habe das Kennzeichen aufgeschrieben, ging sofort zu derselben Polizeistelle und teilte das mit.

Zwei Tage später habe ich einen Anruf erhalten und erfuhr, dass die Polizisten diesen jungen deutschen Mann festgenommen haben. Er wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.

Nach diesem Telefonat habe ich das erste Mal nach dem Überfall geweint. Einen Monat später, als die Wunden auf meinem Gesicht endlich verheilt waren, ging mein Leben weiter. Im Frühjahr 2013 habe ich den Internationalen Rachmaninow Wettbewerb in Frankfurt-am-Main gewonnen und im Herbst 2013 Lutz Görner und Karin Kulmer in Weimar kennengelernt. Mit dieser Bekanntschaft bekam ich nicht nur die Möglichkeit, hunderte Konzerte deutschlandweit zu spielen und zahlreiche CDs aufzunehmen, sondern auch eine große menschliche Hilfsbereitschaft, die alle Bereiche meines Lebens betrifft. Im Februar 2021 beendete ich mein Masterstudium in Weimar mit Eins Komma Null. Kurz danach habe ich die Aufnahmeprüfung für ein Konzertexamen an derselben Musikhochschule bestanden. Und ab Oktober darf ich Grigory Gruzman beim Unterricht begleiten und sogar ab und zu einen Teil seiner Arbeit übernehmen. Der Höhepunkt meines Studiums wird in zwei Jahren aus zwei großen Abschlusskonzerten bestehen: ein Solo-Klavierabend und ein Klavierkonzert mit der Staatskapelle Weimar, in der Weimarhalle bestehen. Seit 2018 lebe ich mit meinem Freund in der freundlichen Stadt Köln.

Wenn Sie noch mehr hören und sehen wollen, unter Kosmos Liszt finden Sie zahlreiche Mitschnitte von Nadia Singer.

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